Odyssee durchs kleine Victoria

Nach einem viel zu kurzen Aufenthalt im roten Herzen Australiens geht es heute weiter nach Melbourne. Wehmütig erhaschen wir aus dem Flugzeug noch einen letzten Blick auf den bezaubernden Ayers Rock. Das Outback und seine unendliche Weite überfliegen wir mehr als drei Stunden lang. Die australische Hochburg berühmter Tennisturniere und Formel-1-Rennen erreichen wir am Nachmittag. Diesmal dauert es extrem lang, ehe wir unseren Mietwagen endlich haben und zu unserem Hotel in die Stadt können. Die Schlangen am Avis-Schalter sind endlos. Auch hier der bereits gewohnte Service: eine nicht gerade überschwängliche Dame, die uns - immerhin! - darauf aufmerksam macht, dass es von Flughafen direkt auf einen zahlungspflichtigen, radarüberwachten Highway geht, der nur elektronisch zu bezahlen, Avis dafür aber nicht zuständig ist - da soll sich unser Hotel drum kümmern.
   So begeben wir uns - diesmal mit Riesen-Schlitten - auf Schwarzfahrt zu unserem Hotel. Bis wir es gefunden haben mitten in der Stadt, ist es Abend. Heute essen wir mal zur Abwechslung im Hotel. Unsere zeitweiligen Weggefährten sind bereits versammelt, man plaudert und erkundigt sich nach den morgigen Unternehmungen. Ein voller Tag ist hier verfügbar mit einer weiteren Übernachtung. Wir sind unschlüssig bezüglich Programm, eventuell ein Besuch der berühmten Pinguinkolonie, ein bisschen durch Melbourne oder Great Ocean Drive, der eigentlich ein Muss ist, weilt man schon mal hier in der Gegend. Die Lehrer tendieren eher zum Great Ocean Drive, Pinguine hätten sie schon bei einer Antarktis-Kreuzfahrt gesehen. Vater und Tochter überlegen noch.

   Früh morgens - das Frühstück haben wir uns gespart - brechen wir zu unserer Mammut-Tour zur Great Ocean Road und ihren weltberühmten Felsformationen im Meer, den Zwölf Aposteln, auf. Es sind weit über 500 Kilometer hin und zurück, einen guten Teil auf schmaler, kurviger Küstenstraße. Die Strecke entlang des Ozeans ist abwechslungsreich, kleine lauschige Buchten wechseln sich mit langgezogenen weißen Stränden ab, dazwischen malerische Orte, die Landschaft üppig, grün und blühend. Man kann nicht umhin, häufiger als geplant Stopps einzulegen, an manch einen Mini-Strand hinunterzuklettern, den Wellen und Möven zuzusehen, oder zum Cape Otway Lighthouse zu spazieren.
    Ein absolutes Highlight ist ein Streckenabschnitt durch einen Regenwald, sattgrünes Pflanzendickicht beiderseits der Straße, mit Riesenfarnen, hohen Eukalyptusbäumen - und unserem ersten Koala. Er hängt in der Astgabel eines Eukalyptus direkt neben der Fahrbahn. Wir sind hin und weg, und Linda ist kaum von hier wegzubekommen. Der Kleine hat die Ruhe weg und lässt sich ausgiebig begutachten. Ein putziges Kerlchen!
   Während der Tag mittlerweile weit fortgeschritten ist, haben wir noch schlappe 100 Kilometer vor uns. Unser eigentliches Ziel, die Steilküste mit ihren bizarren Felsskulpturen erreichen wir um vier Uhr. Von der Straße oben vom Plateau aus ist der Küstenstreifen kaum einsehbar, Hinweisschilder markieren die Fußwege zu den einzelnen Aussichtspunkten und steinernen Naturwundern. Auch wenn eine Kaffeepause ganz nett wäre - an dem riesigen Parkplatz voller Busse und Autos fahren wir vorbei, die Zeit läuft uns weg. Umwerfend ist die Szenerie, die uns jetzt schon beim ersten Abstecher an den Klippenrand zu Füßen liegt: zwei hell strahlende einzelne Felsen im dunklenblauen Meer, die Pinnacles. Ein paar Hundert Meter weiter ziehen uns weit in den Ozean hineinragende senkrechte Wände, fingerförmige Felsrelikte und zu Bogen geformte Strukturen wie die "London Bridge" in ihren Bann.
   Als die Ocean Road schließlich fast auf Meeresniveau verläuft und dann auch noch einen 90-Grad-Haken ins Inland schlägt, dämmert uns, dass wir an den Zwölf Aposteln wohl vorbeigefahren sind. Ein Schild haben wir jedenfalls nicht gesehen. Wir drehen um, während sich bedauerlicherweise die Sonne verabschiedet, der Himmel dunkler wird und Dunst vom Meer aufzieht. Hätten wir nur auf die Karte geschaut, die wir uns extra für hier in einem der kleinen Örtchen gekauft haben! Die Zwölf Apostel befinden sich gleich am Anfang dieses Küstenabschnitts - genau dort, wo all die Busse und vielen Autos neben der Straße standen sowie das überdimensionale Hinweisschild, für Legastheniker auch noch mit Abbildung. So erleben wir nun doch noch das Highlight dieser Tour, die atemberaubende Kulisse, wegen der allein sich schon der weite Weg gelohnt hat. Der Anblick dieses Naturwunders - noch dazu eingetaucht in solch unwirkliches, diffuses Licht - ist umwerfend. Da sieht man denn auch großzügig über die paar fehlenden Apostel hinweg, die sich bereits ins Meer verabschiedet haben.
   Der magische Ort hält uns lange gefangen. Da uns mittlerweile - entgegen aller guten Vorsätze - eine Rückfahrt im Finstern sicher ist, finden wir, ein gemütlicher Restaurantbesuch hier irgendwo spiele jetzt auch keine Rolle mehr. Den ganzen Tag haben wir uns von Keksen ernährt. Im kleinen Küstenstädtchen Peterborough lassen wir den Tag bei Fish and Chips ausklingen. Unser Kellner ist ausgesprochen freundlich.
   Zum Albtraum entwickelt sich unsere Rückfahrt. Laut Straßenplan führt der Princess Highway im Inland nach Melbourne, die Zufahrt dorthin 50 Kilometer nördlich bis Tenang - blöderweise hört unsere Regionalkarte hier auf, der Ort ist am Rand lediglich als Hinweis mit Pfeil vermerkt. Ein dicker Vollmond hängt direkt vor uns, wir fahren genau nach Westen, viele viele Kilometer durch stockfinsteres Niemandsland. Eigentlich müssten wir nach Norden und werden langsam unruhig. Wir kehren um, tatsächlich haben wir kurz nach Peterborough eine falsche Abzweigung erwischt. Tenang mit seinen kargen Lichtlein dann mal am Horizont auftauchen zu sehen, versetzt uns geradezu in einen Glückstaumel. Es ist 21 Uhr, und nach Melbourne sind es noch 270 Kilometer auf dem "Highway", einer eher schmalen Landstraße durch die finstere Weite des Hinterlandes. Die Fahrerei ist trotz häufigen Wechselns äußerst anstrengend und ermüdend - immer geradeaus, kein Wagen, der überholt, keiner, der entgegenkommt, gottlob auch kein einziges Tier, das über die Straße will.
   Melbourne erreichen wir schließlich um halb zwei - eigentlich nicht so übel, läge nicht noch die Herausforderung vor uns, zum Hotel zu finden. Nach einer ausgedehnten Runde - durch die Trockendocks am Hafen, zurück zum Highway, einmal südlich, umkehren und wieder nördlich - verfluchen wir unsere zwei Stadtpläne, die Beschilderungen und ganz Melbourne. Ziemlich entnervt fahren wir das Hotel Seasons am Botanischen Garten an, den wir immerhin erreicht und mehrere Male passiert haben - einen Katzensprung von unserem unerreichbaren, von Einbahnstraßen umgebenen Ziel entfernt. Lieber fragen wir jetzt nach dem Weg. Für das I-Tüpfelchen in puncto Laune sorgt dann der Nachtportier, der Linda anschnauzt, was ortsunkundige Leute um die Uhrzeit hier überhaupt auf der Straße zu suchen hätten. Dank gestiegenem Adrenalinspiegel und Mobilisierung unserer letzten Kräfte stoßen wir nach mutwilligem Befahren einer Einbahnstraße in verkehrter Richtung - so gegen vier Uhr morgens - dann endlich auf die Flagstaff Gardens und somit unser Hotel.

   Heute heißt es: Bye bye, Melbourne! Nach vier Stunden Schlaf begeben wir uns mitten in den morgendlichen Berufsverkehr und erstaunlicherweise sofort auf die richtige Ausfallstraße. Die Stadt übermittelt uns noch einen letzten Abschiedsgruß in Form eines Vogels, der - offenbar vom Wagen vor uns erfasst - gegen unsere Windschutzscheibe torkelt und von dort weitergeschleudert wird. Ist irgendwie nicht unsere Gegend hier. Aber der Trip zur Great Ocean Road war eine geniale Entscheidung - egal wie hart erkämpft!
   Angenehm, dass heute eine gemütliche Etappe vor uns liegt: Unser Ziel ist das 300 Kilometer entfernte Albury mit Übernachtung auf einer Kaschmirfarm in familiärem Kreis. Eine nette Abwechslung zu den Hotels - wir freuen uns schon! Es bleibt jede Menge Zeit für diverse Stopps, mittags an einem kleinen Stausee, danach für eine Kaffepause im Blumenstädtchen Benalla, wo wir mit dem Bistro-Inhaber ins Gespräch kommen und über Orientierung und Verkehrsverhältnisse in Großstädten fachsimpeln. Er meint, München wäre das Schrecklichste gewesen, was er diesbezüglich je erlebt hätte. Wir halten dem Melbourne entgegen, woraufhin er lauthals lacht und unkt, da sollten wir erst mal Sydney erleben. Tja, das werden wir in zwei Tagen und auf die Fahrerei dort freuen wir uns auch schon ganz besonders.

   Ebenes Buschland hat sich hier in eine sanfte, hügelige Landschaft mit weiten Tälern verwandelt. Man fühlt sich fast an Gegenden im Alpenvorland erinnert, wäre hier nicht alles gelb und vertrocknet - offensichtlich das Ergebnis einer bereits lange anhaltenden Dürre. Dies ist auch "Kelly-Land", benannt nach Australiens berüchtigtstem Outlaw, dem Buschranger Ned Kelly, der hier sein Unwesen trieb. An jeder Tankstelle, in jedem Cafe prangt sein Konterfei wie das eines Nationalhelden. Was wir so auf die Schnelle über ihn erfahren, lässt uns im Unklaren darüber, ob er einst eine Art Robin Hood oder ein gemeiner Strauchdieb und Mörder war. Jedenfalls ist er hier allgegenwärtig - mit Waffe in der Hand und dem für ihn typischen gusseisernen Kopfschutz, der wie ein Eimer aussieht. Irgendwie eine sympathische Ikone - wir freuen uns jedes Mal, wenn wir ihm begegnen.
   Sicher hat ihm seinerzeit auch Beechworth gefallen, das kleine Goldgräberstädtchen, dem heute unser letzter Abstecher gilt. Liebevoll restaurierte Gebäude, schmiedeeiserne Veranden, schmucke Fassaden und überdachte Gehwege lassen für den Besucher eindrucksvoll das Leben zu Pionierzeiten und des Goldrausches wieder auferstehen. Wir flanieren vorbei am "Butcher" mit "Good Meat"-Schild, am alten Postgebäude, an lauschigen kleinen Cafes und unter anderem einer Werkstatt, wo traumhafte Oldtimer mit Hingabe aufpoliert werden. Man hat hier offenbar einen ganz besonderen Draht zum Erhalt alter Pracht.
   Eine Kaffepause hatten wir zwar schon - der Beechworth Bakery müssen wir dennoch unbedingt einen Besuch abstatten. Sie soll berühmt sein für ihr grandioses Sortiment an wohlschmeckenden Kuchen und anderen Süßigkeiten. Ein Dorado für Hans! An den langen, mit buntem, farblich sortiertem Zuckerzeug drapierten Vitrinen fällt ihm eine Auswahl sichtlich schwer. Mit Blick auf den Herausgeber der hiesigen Lokalpresse gibts dann Cappuccino in Riesenbechern und für Hans die dicken Sahneschnittchen. Ned Kelly mit Waffe und seinem Kübel am Kopf ist natürlich auch dabei: überlebensgroß auf einem Ölgemälde an der Wand hinter uns.

   Trotz der üblichen sehr kryptischen Anfahrtsskizze finden wir heute auf Anhieb unsere Unterkunft, die Kaschmirfarm Inverness Park - weitab des Hume Highway, nach Kilometern holperiger Feldwege durch knochentrockenen Busch. Wir werden bereits am Tor erwartet, von den Farmern Dan und Irene - das Lehrer-Ehepaar ist auch schon da. Vater und Tochter sind auf einem anderen Anwesen untergebracht - wir haben sie vor kurzem an einem Wegrand stehend getroffen, verzweifelt die Anfahrtsskizze zu ihrem Quartier studierend. Sie waren heute zu Besuch in einem kleinen Zoo, wo sie - wie sie sich ausdrückten - zur Abwechslung mal lebendige einheimische Tiere ansehen wollten.
   Unsere Gastgeber zeigen uns nach herzlichem Willkommen Zimmer und Bad - mit der eindringlichen Bitte, Wasserhahn und Dusche so sparsam wie möglich zu nutzen - es habe seit Monaten nicht mehr geregnet und man greife bereits auf Notreserven fürs Gebrauchswasser zurück. Vor dem Abendessen - selbstverständlich von Irene selbst zubereitet - gibts noch Programm: Besuch der Kaschmir-Herde auf der Weide mit anschließender Demo diverser Vorrichtungen und Geräte zur Schur sowie Rundgang übers Gelände. Stürmisch werden wir von Leitbock Willy und seiner Herde begrüßt - sicher freut man sich immer über Besuch und damit verbundenes außertourliches Futter. Die "Weide" - bracher Sandboden mit vereinzelten braunen Dornenbüscheln - dürfte die Tiere schon lange nicht mehr genügend ernähren. Bedenklich niedrig ist auch der Wasserstand eines künstlichen Sees, den Dan für Not- und Dürrezeiten angelegt hat.
   Dass man die Farm schon lange nicht mehr halten könne, würde man nicht nebenher zahlende Gäste aufnehmen, erfahren wir später beim gemeinsamen Essen - wo es zu Lindas Erleichterung nicht Ziege sondern Truthahn gibt. Unsere Lehrer - sie sinds tatsächlich, wie wir heute erfahren haben - begeben sich früh zu Bett. Sicher wollen die beiden frühzeitig los und pünktlich Canberra erreichen, die nächste Station. Wir genießen den Abend noch eine zeitlang auf der gemütlichen Terrasse, Dan raucht ein Pfeifchen, erzählt aus seinem und Irenes bewegten Leben, zeigt uns Vogel- und Pflanzenbücher und Irene verrät uns die schönste Strecke für die morgige Fahrt nach Canberra. Gesellschaft leistet uns ein alter dreibeiniger Hund und eine fast kuchentellergroße Spinne, die am beleuchteten Fenster auf Beute lauert. "Only a Huntsman", meint Dan beruhigend.

   Nach einer bewusst sparsamen Blitzdusche und dem Frühstück machen wir uns heute auf den Weg nach Canberra. Wie von unseren liebenswerten Gastgebern empfohlen, wählen wir die längere, dafür reizvollere Strecke in die Landeshauptstadt: zunächst am Murray River entlang und anschließend quer durch den Kosciusko National Park und die Snowy Mountains, ein beliebtes Skigebiet der Aussies.
   Erster Stopp ist der Hume Damm, der den Murray zu einem recht großen See aufstaut. Die Uferlinien hoch überm Wasserspiegel zeugen von besseren Zeiten. Für die Braunen Pelikane, die sich unten auf der Dammmauer putzen oder nach Fischen Ausschau halten, reicht es allemal. Auf unserer Weiterfahrt durch das zwar zauberhafte, hügelige aber völlig ausgedorrte "High Country" stellen wir uns die Frage, wie lange diese Hauptwasserader der australischen Kornkammer - derzeit teilweise nur ein klägliches Rinnsal - noch Mensch, Tier und Pflanzen hier ausreichend versorgen kann.

   Längst haben wir die empfohlene Abzweigung - und kürzere Route - in die Berge verpasst. Aber die Strecke entlang des Flusses ist so abwechslungsreich wie malerisch - und Eile haben wir nicht. Canberra ist nicht weit, und mehr als dort übernachten wollen wir eh' nicht. So schlängeln wir uns noch eine Weile durch das hübsche Tal bis wir auf die Straße stoßen, die uns ins australische Ski-Dorado führt - und nach New South Wales.